(von Dagmar Elsenbast)
Schule vermittelt Bildung grob gesehen in zwei Bereichen. Der eine Bereich umfasst die Aufnahme von Lernstoff (Fakten, Informationen) sowie den Um-gang damit, der andere Bereich die Entwicklung von sozialer und kommunikativer Kompetenz. Beide Bereiche sind untrennbar miteinander verbunden. Das Asperger-Syndrom als soziale/kommunikative Behinderung hat somit Auswirkungen in beiden Bereichen.
Das Asperger-Syndrom hat keinen Einfluss auf die intellektuelle Leistungsfähigkeit eines Schülers, d.h. es gibt minder-, durch-schnittlich- und hochbegabte Asperger-Schüler. AS beeinflusst die Aufnahme und Wiedergabe von Informationen, nicht jedoch die Qualität des intellektuellen Verarbeitungsprozesses. Dieser ist zwar fast rein rationaler Natur und dadurch zeitaufwändi-ger, was aber keinen Einfluss auf die Qualität an sich hat.
Konkret bedeutet dies, steht dem Asperger-Schüler der Lernstoff in gleichem Umfang zur Verfügung, wie seinen Mitschüler, wurde also der Nachteilsausgleich durchgeführt, kann er ihn entsprechend seinen intellektuellen Fähigkeiten verarbeiten.
Um die intellektuellen Fähigkeiten eines Schülers mit Asperger-Syndrom bewerten zu können, muss man bei mündlichen und schriftlichen Leistungsüberprüfungen (also der Wiedergabe) berücksichtigen, dass AS auch Auswirkungen auf die Informationswiedergabe haben kann. Der Schüler braucht durch seine fast rein rationale Informationsverarbeitung mehr Zeit und während der Leistungsüberprüfungen sind Multitasking-Situationen zu vermeiden.
Ein Lehrer macht sich im Laufe der Zeit von der Leistungsfähigkeit eines Schülers ein Bild. Dieses Bild setzt sich grob gesehen aus zwei Erfah-rungsbereichen zusammen, den tatsächlichen erbrachten Leistungen und Leistungen, die der Schüler erbringen könnte, wenn er sein Potential voll ausschöpfen würde. Letzteres ist nicht messbar, man kann es nur erschließen aus den Reaktionen eines Schülers, die erkennen lassen, ob und wann er unter- bzw. überfordert ist.
Bei einem Schüler, der klar erkennbar überfordert ist, ist es legitim, davon auszugehen, dass er sein Potential voll ausgeschöpft hat. Der Asperger-Schüler stellt nur insofern eine Besonderheit dar, als man bei ihm berück-sichtigen muss, ob die Überforderung evtl. durch AS bedingt ist (z.B. Multi-tasking-Anforderungen), also nicht in Zusammenhang mit seinem geistigen Potential steht. Berücksichtigt man dies, sind auch bei ihm die Grenzen seines Potentials deutlich erkennbar.
Ob ein Schüler unterfordert ist, also ob er sein Potential nicht ausge-schöpft hat, ist beim neurotypischen Schüler u.a. daran festzustellen, dass er mehr Leistung bringt oder es ihm leichter fällt als anderen.
Dieses Instrumentarium lässt sich auf einen Schüler mit Asperger-Syndrom nur sehr bedingt anwenden, was es erschwert, zu erkennen welches Potential er hat. Das hat seinen Grund in zwei Dingen, die für Asperger-Autisten typisch sind.
Hat man den Eindruck, dass mehr in einem Schüler steckt, als er zeigt, wird man versuchen, ihn zu motivieren, sein Potential voll auszuschöpfen.
Ein Asperger-Schüler macht es einem nicht leicht, zu erkennen, ob mehr in ihm steckt, denn als Chamäleon wird er immer versuchen, sich den Anforderungen anzupassen. Ist ihm das zu 100 % gelungen, hat er sein Ziel erreicht. Er hat also keinen Eigenantrieb, keine Motivation, mehr zu erreichen. Da er sich nicht mit anderen vergleicht, tritt er mit diesen nicht in Konkurrenz, erhält also auch hierdurch keine Motivation mehr zu leisten.
Der Asperger-Schüler wird also maximal die Erwartungen erfüllen, die man an ihn hat, sie aber nicht übertreffen. Damit bestätigt er, dass das, was man von ihm erwartet hat, seinem Potential angemessen war, d.h. das Bild, das man sich von dem Schüler gemacht hat, wird bestätigt.
Das tatsächliche Potential eines Schülers mit Asperger-Syndrom kann man nur austesten, indem man probiert, mehr von ihm zu fordern, als man aufgrund der Vorerfahrungen (dem Bild, das man von ihm gewonnen hat) von ihm glaubt fordern zu können. Man muss Überforderung riskieren. Tut man dies nicht, läuft man Gefahr diesen Schüler ständig zu unterfordern und damit auch zu unterschätzen. Das führt bei Asperger-Schülern genauso wie bei seinen neurotypischen Mitschülern zu Antriebslosigkeit.
Ein weiterer Bereich schulischer Bildung ist das Erlernen und Stärken von sozialen und kommunikativen Kompetenzen. Das Asperger-Syndrom ist eine soziale/kommunikative Behinderung. Dies bedeutet jedoch nicht, dass ein Asperger-Schüler auf diesem Gebiet keine Kompetenz erwerben kann. Entscheidend ist, dass er Mechanismen entwickeln muss, die es ihm ermöglichen, seine Behinderung zu kompensieren. D.h., wird von ihm etwas gefordert, das er aufgrund seiner Behinderung nicht leisten kann, muss er mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln Wege suchen, die Anforderung zu erfüllen.
Geht man also von vornherein davon aus, dass man an ihn in bestimmten sozialen/kommunikativen Bereichen keine Anforderungen stellen darf, entsteht keine Notwendigkeit, Kompensationsmechanismen zu entwickeln.
Kompensieren ist gleichzusetzen mit anpassen. Der Asperger-Schüler wird sich auch im sozialen/kommunikativen Bereich anpassen (Chamäleon), aber sich auch hier nicht mit anderen vergleichen. Er sieht nicht, wie sich andere in einer bestimmten Situation verhalten sondern nur, welches Verhalten von ihm erwartet wird.
Erwartet man von einem Asperger-Schüler, dass er sich aspergertypisch verhält, wird er sich an diese Erwartung anpassen. Erwartet man von ihm, dass er sich neurotypisch verhält, ist er dazu nicht mit den gleichen Mitteln in der Lage wie ein Neurotypischer, aber er wird versuchen, sich mit seinen Mitteln der Erwartung anzupassen, d.h. er versucht zu kompensieren. Übung macht den Meister; je häufiger er gezwungen ist zu kompensieren, umso versierter wird er darin.
Neurotypische Forderungen im sozialen/kommunikativen Bereich an einen Asperger-Schüler zu stellen bedeutet immer, ihn zu überfordern, aber er ist auf diese Überforderung angewiesen, um Kompensationsmechanismen entwickeln zu können.
Warum kann ein Asperger-Schüler in der Schule weniger soziale/kommuni-kative Kompetenz zeigen als außerhalb der Schule?
Maßgeblich ist nicht, ob er die Kompetenz überhaupt hat, sondern ob die Umgebung, in der er sich bewegt, diese Kompetenz von ihm fordert.
Wird mit dem Schüler außerhalb der Schule neurotypisch umgegangen, wird er sich dem mit seinen Mitteln anpassen, damit er sich unauffällig unter den Neurotypischen bewegen kann. Versucht man in der Schule mit ihm asperger-adäquat umzugehen, wird er sich wie ein typischer Asper-ger-Autist verhalten, obwohl er sich außerhalb neurotypisch angepasst verhalten kann. Da er sich nicht mit anderen Schülern vergleicht, merkt er selbst nicht, dass er sich anders verhält. Aber seine Mitschüler und Lehrer bemerken es und gehen mit ihm als der Person um, die sie wahrnehmen. An dieses Bild passt sich der Asperger-Schüler wiederum an, so dass ein Teufelskreis entsteht. Dieser Teufelskreis kann nur von den Neurotypischen durchbrochen werden, nicht aber vom Asperger-Schüler selbst. Je neurotypischer in der Schule mit dem Asperger-Schüler umgegangen wird, umso größer sind seine Chancen soziale/kommunikative Kompetenzen zu erwerben.