Der Umgang mit Behinderten, insbesondere mit Asperger-Autisten

(von Dagmar Elsenbast)

 

 

An den Anfang möchte ich einen Zeitungsartikel stellen, den ich vor wenigen Tagen gelesen habe. In diesem Artikel geht es um einen 13-jährigen Jungen, der elf Tage in der New Yorker U-Bahn untertauchte, weil er Probleme in der Schule und zuhause hatte. Mit einer Fahrkarte und 10 Dollar in der Tasche flüchtete er unter Tage. Zum Zeitvertreib fuhr er von Endstation zu Endstation, schlief mit dem Kopf auf seinem Rucksack und besorgte sich von seinem Geld an einem Kiosk Croissants, Kekse und Kartoffelchips. Sein Trinkwasser füllte er sich an einem Waschbecken in eine Flasche ab. Aus seinem Handy hatte er die Batterien genommen, um seine Ruhe zu haben. Er entging den Überwachungskameras und erst nach 11 Tagen wurde ein Polizist zufällig auf ihn aufmerksam.

 

  

Spontan denkt man sich da: schon wieder ein Kind, das wegläuft, weil es zuhause oder in der Schule Probleme hat. Man hört ja allenthalben davon. Der Junge muss schon clever sein, sonst hätte er nicht 11 Tage lang im Untergrund bleiben können, ohne dass er irgendjemandem aufgefallen ist. Ein Glück, dass der Polizist so aufmerksam war, sonst würde der Junge vielleicht heute immer noch als Obdachloser in der U-Bahn hausen. Das Problem, dass Kinder und Jugendliche von zuhause weglaufen, kennt man ja nicht nur aus den USA, das gibt es auch in an-deren Ländern. Auch Erwachsene, vom Hilfsarbeiter bis zum Professor, steigen aus den ver-schiedensten Gründen aus der Gesellschaft aus und führen ein Leben als Obdachlose.

 

Darüber ließe sich noch einiges sagen und wohl jeder hat dazu seine eigenen Gedanken, ausgelöst durch den Zeitungsartikel über den 13-jährigen Jungen in der New Yorker U-Bahn.

 

 

Allerdings habe ich bei der Wiedergabe des Artikels ein Detail bewusst ausgelassen: der Junge ist Asperger-Autist.

 

  

„Ja dann ... sieht die Sache ja ganz anderes aus“ höre ich den Leser sagen. „Dann ist ja klar, warum der Junge weggelaufen ist“

 

  

Damit hat sich jedes weitere Befassen mit dem Thema erübrigt. Der Artikel löst kein Nachden-ken mehr über die Problematik aus, dass jährlich viele Kinder und Jugendliche von zuhause weglaufen und untertauchen. Dieser Junge ist nicht wie all die anderen. Er ist Autist und damit verbindet man Vorstellungen, die erklärlich machen, warum er von zuhause weggelaufen ist. Seine Gründe haben nichts mehr gemeinsam mit denen der anderen Kinder und Jugendli-chen. Man ist nicht mehr betroffen.

 

  

Ausgelöst wird diese Reaktion durch ein meist recht diffuses Wissen über Autismus. Der Junge, von dem in diesem Artikel die Rede ist, hat das Asperger-Syndrom, eine spezielle Form von Autismus.

 

  

Menschen mit AS (Asperger-Syndrom) sind intellektuell normal- bis hochbegabt und haben, im Unterschied zu Kanner-Autisten (landläufig auch Glasglockenautisten genannt), Kontakt mit ihren Mitmenschen. Ihre Fähigkeiten im sozialen Umgang sind jedoch durch das Asperger-Syndrom beeinträchtigt, dessen wesentliches Merkmal die rein rationale Art der Informationsverarbeitung im Gehirn ist, d. h. sie agieren und reagieren fast ausschließlich rational. Der unbewusste Zugriff auf die Intuition oder das sog. Bauchgefühl ist für sie nur sehr eingeschränkt möglich. Dies hat vielfältigste Auswirkungen auf den sozialen Umgang mit anderen Menschen, denn hierbei spielt die Intuition eine entscheidende Rolle. In einem Gespräch haben nicht nur die Worte allein Bedeutung, sondern auch die Gesprächssituation, das Verhältnis der Ge-sprächsteilnehmer zueinander, die Stimmlage und die Mimik und Gestik der beteiligten Per-sonen. Alles, außer dem gesprochenen Wort selbst, wird intuitiv wahrgenommen und meist verstanden. Es ist also für einen Menschen mit AS, dem die Intuition nicht zur Verfügung steht, kaum erkennbar, es sei denn, er nimmt es rational wahr und hat die Bedeutung wie eine Fremdsprache gelernt.

  

Im Umgang mit Asperger-Autisten entsteht oft der Eindruck, dass diese nicht in der Lage sind, etwas verstandesmäßig zu erfassen, weil ihre rationale Kenntnis der zusätzlichen Bedeutungs-ebenen noch nicht so umfassend ist. Man könnte sie mit einem Fremdsprachler vergleichen, der intellektuell durchaus in der Lage wäre, seinen Gegenüber zu verstehen, aber noch nicht über ausreichende Sprach-kenntnisse verfügt. Für beide gilt, je umfangreicher die Kenntnisse der Fremdsprache werden, umso größer das Verstehen und umso problemloser die Kommunikation.

 

  

Ein weiteres Merkmal des Asperger-Syndroms ist die Unfähigkeit, Vorgänge parallel auszu-führen (Multitasking). Jeder Mensch ist in der Lage eine begrenzte Anzahl von Dingen (Tasks) gleichzeitig zu bewältigen. Diese Anzahl ist individuell verschieden und abhängig von der Intensität, mit der man sich mit den einzelnen Dingen befasst. Rein rational kann immer nur ein Vorgang verarbeitet werden, parallele Tasks hingegen nur intuitiv. Denkt man im Auto auf dem Weg zur Arbeit über das anstehende Tagespensum nach (rational), fährt man automatisch (intuitiv). Kommt es zu einer Verkehrssituation, die die volle Aufmerksamkeit erfordert, hört man auf, über das Tagespensum nachzudenken, denn nur so kann man sich voll (rational) auf die Verkehrssituation konzentrieren. Menschen, die rein rational agieren und reagieren und keinen Zugriff auf die Intuition haben, sind nicht multitaskingfähig, jedoch sind all ihre Aktionen und Reaktionen von höchster Genauigkeit und Intensität geprägt. Das nimmt wesentlich mehr Zeit in Anspruch, als eine intuitive Vorgehensweise aus dem Bauch heraus. Ein langsamer Mensch genießt aber in der Regel bzgl. seiner Intelligenz in unserer Gesellschaft ein geringeres Ansehen, denn Schnelligkeit wird meist mit höherer geistiger Flexibilität und Qualität gleichgesetzt.

 

  

Ein weiteres Merkmal des Asperger-Syndroms ist die erhöhte sensorische Reizempfindlich-keit. D.h. Geräusche, Gerüche, Geschmäcker, Berührungen und optische Eindrücke werden um ein Vielfaches stärker wahrgenommen. Welcher bzw. wie viele Sinne besonders ausge-prägt sind, ist von Asperger zu Asperger verschieden. So kann eine laute Geräuschkulisse, ein starker Geruch, ein optischer Eindruck oder eine Berührung so intensiv sein, dass die Konzentration auf etwas anderes nicht mehr möglich ist. Eine normale menschliche Reaktion ist es, Situationen, in denen Reizüberflutung auftritt, zu meiden und sich zurückzuziehen. Men-schen mit erhöhter sensorischer Empfindlichkeit kommen weit häufiger in solche Situationen als andere und ziehen sich also auch häufiger zurück. Dieses Zurückziehen bezeichnet man auch als autistisches Verhalten.   

 

  

Es gibt viele Menschen mit Platzangst, Kontaktproblemen, Berührungsängsten, festen Gewohnheiten und Vorlieben, Personen, die langsamer, aber dafür sorgfältiger ihre Arbeit erledigen oder die sich in einem lauten Umfeld nur schwer konzentrieren können und dabei keine Asperger-Autisten sind. Erst wenn alle oben genannten Merkmale zusammentreffen spricht man vom Asperger-Syndrom. Dies ist aber nur ein Teil der Persönlichkeit der betroffenen Menschen. Ohne die Kenntnis, dass eine Person Asperger-Autist ist, wird sie von ihren Mitmenschen als Gesamtper-sönlichkeit wahrgenommen. Sobald dies jedoch bekannt wird, tritt die Persönlichkeit in den Hintergrund und der Mensch wird nur noch als Asperger wahrgenommen. Er kommt, bildlich gesprochen, in eine Schublade, auf der außen das Etikett „Autist“ klebt und in der Regel wird nicht mehr überprüft, ob der Inhalt der Schublade dem entspricht, was außen auf dem Etikett steht.

 

  

Die Gefahr dieses Einsortierens in die „Autisten-Schublade“ ist geringer, je etablierter eine Person bereits in der Gesellschaft ist. Ein Erwachsener, der eine gesicherte berufliche und private Position inne hat, also schon in einer „Schublade“ drin ist, wird diese nicht so schnell verlieren.

 

  

Bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist dies grundlegend anders. Sie sind noch in der Entwicklung, sowohl was ihre Persönlichkeit, als auch was ihre Position in der Gesellschaft betrifft. Sobald bekannt wird, dass ein Kind Asperger-Autisten ist, also von der Norm abweicht, fühlt sich die Gesellschaft verpflichtet, diesen jungen vermeintlich „kranken“ Menschen so zu fördern und zu behandeln, dass aus ihm ein vollwertiges und „gesundes“ Mitglied der Gesellschaft wird.

 

  

An diesem Punkt ist es wichtig, einen Definitionsversuch zu unternehmen, um die Begriffe „Krankheit“ und „Behinderung“ voneinander zu unterscheiden.

 

  

Eine Krankheit hat einen Verlauf. Dieser Verlauf ist mehr oder weniger beeinflussbar. D.h. eine Krankheit kann behandelt werden.

 

  

Eine Behinderung ist ein Zustand. Dieser Zustand an sich kann nicht verändert und behandelt werden, aber seine Auswirkungen.

 

  

Eine Krankheit kann eine Behinderung verursachen. In diesem Fall kann der Verursacher, nämlich die Krankheit behandelt und dadurch evtl. die Behinderung behoben oder in ihrem Ausprägungsgrad verändert werden.

 

  

Eine Behinderung kann eine Krankheit verursachen. In diesem Fall kann aber nicht der Verursacher, nämlich die Behinderung behandelt werden, sondern nur die Krankheit, was aber wiederum keine Auswirkungen auf die Behinderung als solche hat, sondern nur deren Auswir-kungen lindern kann.

 

  

Das Asperger-Syndrom ist eine Behinderung, der keine Krankheit zugrunde liegt. Der Asperger-Autist lernt im täglichen Leben, beim sozialen Umgang mit Anderen und evtl. in Therapien mit den Auswirkungen seiner Behinderung umzugehen und ist dadurch in der Lage, deren Auswirkungen zu lindern und für sich selbst eine bessere Lebensqualität zu erreichen. Er wird jedoch sein ganzes Leben lang diese Behinderung haben.

 

  

Wie die Gesellschaft mit Behinderten umgeht, ist nicht zuletzt davon abhängig, wie offensicht-lich die Behinderung ist und welche Qualität sie hat.

 

  

Eine körperliche Behinderung, die die Ausdrucks- und Artikulationsfähigkeiten eines Men-schen nicht beeinträchtigt, hat keinerlei Auswirkungen auf das intellektuelle Ansehen der Person.

 

  

Bei einer körperlichen Behinderung hingegen, die sich beeinträchtigend auf die Ausdrucks- und Artikulationsfähigkeiten auswirkt, wird dies primär als Beleg für eine gleichzeitig auch intellektuelle Beeinträchtigung (geistigen Behinderung) gesehen. Erst im zweiten Schritt wird die Ursache in der körperlichen und nicht einer geistigen Behinderung erkannt. Für die Betroffenen ist dies eine schmerzliche Erfahrung, die sie immer wieder aufs Neue machen.

 

  

Das Asperger-Syndrom äußert sich in einer Beeinträchtigung der Ausdrucksfähigkeit auf dem Gebiet des Sozialverhaltens. Hier ist keine körperliche Ursache sichtbar, so dass Menschen ohne genaue Kenntnis dieser Behinderung, überwiegend von einer geistigen Beeinträchtigung der betreffenden Person ausgehen.

 

  

Nur wenige Fachleute und Laien wissen, was das Asperger-Syndrom für die Betroffenen bedeutet. Alle anderen wenden daher in der Regel ihr Bild vom Autisten ganz allgemein an. Die damit verbundenen Vorstellungen finden dann ihren Nieder-schlag im Umgang mit dem Asperger-Autisten und führen letztendlich zu dessen gesellschaftlicher Ausgrenzung. Aber gerade für ihn ist die rationale Auseinan-dersetzung mit seinen Mitmenschen in ständigen Kontakt von größter Bedeutung. Zu erkennen, dass die meisten Menschen in hohem Maß von ihrer Intuition geleitet werden, macht es ihm erst möglich, mit ihnen umzugehen. Jeder läuft Gefahr, missver-standen zu werden, wenn er sich nicht im Klaren darüber ist, welche Emotionen sein Verhalten bei anderen auslösen kann, also auch der Asperger-Autist.

 

  

Früherkennung von Krankheiten oder Behinderungen ist mit Sicherheit der wichtigste Faktor, um frühzeitig Heilung oder Linderung der Auswirkungen einzuleiten.

 

 

Mit fortschreitender Entwicklung der Diagnostik wird in immer jüngeren Jahren, oft schon im Kindergartenalter, das Asperger-Syndrom erkannt. Dies zieht aber, trotz zunehmender Kenntnis der Fachleute auf diesem Gebiet, immer noch viel zu oft nach sich, dass das Kind zum Zwecke der Behandlung und Förderung einen Sonderkindergarten oder eine Sonderschule besucht. Es wird somit aus dem „normalen“ gesellschaftlichen Umfeld herausgenommen und der direkte Kontakt zu diesem unterbunden. Fortan werden soziale Kompetenzen in einer Gesellschaft außerhalb der Gesellschaft erworben. Ein intellektuell unbeeinträchtigtes Kind wird sich dann verhalten wie ein intellektuell beeinträchtigtes, weil es nur den Umgang mit diesen kennt. Gerade dadurch wird eine Eingliederung in die Gesellschaft der „Normalen“ im Erwachsenenalter erschwert, wenn nicht unmöglich.

 

  

Das Asperger-Syndrom ist genetisch bedingt, was bedeutet, dass auch in den vorangegangenen Generationen Asperger-Autisten in unserer Gesellschaft lebten. Sie sind in den seltensten Fällen auffällig genug gewesen, um zum gesell-schaftlichen Außenseiter zu werden. Sie hatten die Gelegenheit, auf ihre rationale Weise zu lernen, mit ihrem Handicap ein relativ „normales“ Leben innerhalb der Gesellschaft zu führen.

 

 

Für Kinder mit Asperger-Syndrom ist das Recht auf Regelbeschulung von Behin-derten von immenser Wichtigkeit, denn so haben sie die Chance, soziale Kompetenz durch Erfahrungen im Umgang der „normalen“ Gesellschaft zu erwerben. Voraussetzung ist jedoch, dass sich die Gesellschaft inkludierend verhält, d.h. diese Menschen als Teil der Gesellschaft ansieht und nicht tolerierend, indem sie sich bereit zeigt, Außenseiter zu integrieren.

 

  

Behinderte sind in erster Linie Mitmenschen, die unsere Aufmerksamkeit verdienen, weil sie Menschen sind und wir vieles mit ihnen gemeinsam haben, nicht weil sie etwas haben, das sie von uns unterscheidet.

 

  

Die politischen Voraussetzungen für die Inklusion behinderter Menschen in die Gesellschaft sind nicht zuletzt durch die Behindertenrechtskonvention der UNO geschaffen. Jedoch erst das praktische Umsetzen und damit das gelebte Beispiel, das wir kommenden Generationen ge-ben, kann zu einer Veränderung der Gesellschaft führen.

 

  

Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, die den Wert eines Menschen an seiner Leistungsfähigkeit misst. Das führt dazu, dass Menschen, die weniger leistungsfähig sind als andere, auch als geringer wertig angesehen werden.

 

  

Was macht den Wert eines Menschen aus? Ist es seine Leistungsfähigkeit und somit letztendlich sein materieller Wert für die Gesellschaft oder ist es sein Menschsein an sich? Die Antwort auf diese Frage ist entscheidend für unseren Umgang mit Behinderten.