Der Schulausflug nach Absurdistanten.

(von Dagmar Elsenbast)

Nach unserer jahrelangen Odyssee auf der Suche nach der richtigen Diagnose hatten wir kurz nach dem 14. Geburtstag unserer Tochter endlich die Gewissheit, dass sie Asperger-Autistin ist. Ein Asperger in der Familie kommt selten allein! Und so stellte sich heraus, dass auch ihre Oma, mit der mein Mann und ich seit der Geburt unserer Tochter unter einem Dach lebten, da-von betroffen war. Bei mir, ihrer Tochter, hatte AS eine Generation übersprungen, aber sie hat-te mich „aspergerisch“ erzogen, denn mein Vater, ein „Normalo“, und ich lebten zuhause in „Asperger-Land“. Erst mit 18 Jahren, als ich mein Studium aufnahm, wurde mir so richtig be-wusst, dass es noch „eine Welt da draußen“ gibt. Somit habe ich quasi die doppelte Staats-bürgerschaft. Das ist ausgesprochen hilfreich, wenn man Mutter einer Asperger-Autistin ist, denn so kann ich meinem Kind die Welt erklären, wie es alle Eltern tun, aber in seiner eigenen Sprache. Ich bin quasi ein Dolmetscher für Aspergerisch. Das gilt aber nichts, wenn ich mich unter Normalos in Normalo-Land bewegt.

  

Ich weiß nicht, ob es ein Deutschland-spezifisches Problem ist, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass einem noch so gut informierten, weil indirekt betroffenen „Laien“ weniger Glau-ben geschenkt wird, als einem evtl. weniger informierten, aber dafür „amtlich“ ausgewiesenen Fachmann. Das kann, gerade in Bezug auf das Asperger-Syndrom zu großen Problemen füh-ren.

  

AS ist nach wie vor ein Randgebiet der Psychologie und es gibt z.Zt. nur sehr wenige Fach-leute, die sich wirklich damit auskennen. Allerdings nimmt die Fachliteratur zu diesem Thema ständig zu. Grob lässt sich diese Literatur ein 3 Gruppen einteilen:

  

  1. Psychologische Fachliteratur, die AS und seine Auswirkungen theoretisch beschreibt.
  2. Psychologische Fachliteratur, die AS und seine Auswirkungen beschreibt und den theoretischen Ansatz anhand von Aussagen und Beschreibungen Betroffener belegt
  3. Veröffentlichungen von Betroffenen, die AS aus ihrer eigenen Erfahrung heraus schildern 

Nehmen wir das Bild vom Asperger-Land und Normalo-Land nochmals auf, so sind 1. und 2. Reiseführer, die Normalos über Asperger-Land geschrieben haben, ohne es jemals selbst be-treten zu haben und 3. sind Reiseführer, die Asperger über Asperger-Land in Aspergerisch geschrieben haben. Auch die Leserschaft der Reiseführer unterscheidet sich gravierend. Nor-malos lesen nur Reiseführer in Normalo-Sprache und Asperger nur Reiseführer in Asperge-risch, was sich alleine schon daraus erklärt, dass einer die Sprache des anderen nicht ver-stehen kann.

  

Was geschehen kann, wenn eine Schule sich auf einen nicht gewollten, aber nicht zu umge-henden Ausflug ins Asperger-Land begibt, sich auf Fachleute und auf Reiseführer in Normalo-Sprache verlässt und nur sehr zögernd die Dienste eines mitreisenden Dolmetschers in An-spruch nimmt, möchte ich im folgenden aus der Sicht des Dolmetschers schildern, der da-durch gezwungen war, sich wieder auf die Reise durch Absurdistan zu begeben.

  

Zum Zeitpunkt der Diagnosestellung besuchte unsere Tochter die 8. Klasse des Gymnasiums an unserem Wohnort. Auslöser, uns um eine Diagnose zu bemühen, waren Probleme, die sich im sozialen Umgang mit den Mitschülern ergeben hatten. Etwas überspitzt formuliert könnte man sagen, dass unsere Tochter, weil sie ein „abweichendes“ Verhalten an den Tag legte, von ihren Mitschülern gemobbt wurde. Die Diagnose Asperger-Syndrom stellte ein Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Trier, der uns als absoluter Fachmann auf diesem Gebiet genannt worden war, nach einer 3-tägigen Testreihe. Uns ging es nicht anders als anderen Eltern in der gleichen Situation. Wir hatten vorher noch nie etwas von AS gehört und begannen uns sogleich darüber zu informieren.

 

Aber wir standen ja noch ganz am Anfang, also verließen wir uns natürlich zunächst einmal auf den Rat des Fachmanns. Der empfahl uns, unsere Tochter aus der für sie so belastenden Situ-ation auf dem Gymnasium herauszunehmen und sie auf einer Waldorf-Schule zu schicken, wo das Soziale besonders im Vordergrund stehe. Heute wissen wir, dass „Lerning by Doing“ bei einem Asperger-Autisten gerade auf dem Gebiet des sozialen Umgangs miteinander nicht geht, aber im Vertrauen auf die Kompetenz des Facharztes bemühten wir uns um einen Platz an der Waldorf-Schule in Trier. Das klappte, zum großen Glück für unsere Tochter, wegen der langen Warteliste aber nicht. Den Vorschlag des Facharztes, unsere Tochter auf ein Internat zu schicken, das sich auf AS-Schüler spezialisiert hat, konnten wir uns schlicht nicht leisten. Also blieb nur die Möglichkeit, dass sie weiterhin das Gymnasium an unserem Wohnort besuchte. Uns war klar, dass unsere Tochter therapeutische Hilfe brauchte, also baten wir den Facharzt, uns Therapeuten zu nennen, die sich mit AS auskannten. Wir erhielten eine Liste von ca. 50! Therapeuten, die sich aber als kaum brauchbar herausstellte, da die hier genannten Personen entweder keine Kinder- und Jugendtherapeuten waren oder von AS bestenfalls gehört hatten, sich aber nicht näher damit auskannten. Wir standen also mit leeren Händen da und mussten uns selbst auf die Suche machen. Dass es in Trier ein Autismus-Therapiezentrum gibt, haben wir erst Jahre später durch Zufall erfahren. Der Facharzt jedenfalls hielt es nicht für notwendig, uns darauf hinzuweisen.

  

Natürlich haben wir sofort nach Erhalt der Diagnose die Klassenlehrerin unserer Tochter infor-miert. Im 9. Schuljahr bekam sie einen neuen Klassenlehrer und auch mit diesem standen wir in ständigen Kontakt und führten mit ihm mehrere Gespräche z.T. auch im Beisein der Thera-peutin, die wir in der Zwischenzeit selbst aufgetan hatten. Wir waren also, zumal wir uns notge-drungen mittlerweile selbst zu Fachleuten für AS weitergebildet hatten, der Auffassung, unser Möglichstes getan zu haben, um die Schule über die Behinderung unserer Tochter zu informie-ren und sie im Umgang damit zu unterstützen. Da nur ausgesprochen selten aus der Schule Rückmeldungen über Probleme mit unserer Tochter kamen, unsere Tochter selbst nichts be-richtete und ihre Noten durchschnittlich waren, wähnten wir uns, zumindest was ihre schulische Laufbahn anbetraf in ruhigem Fahrwasser.

  

Therapeutisch gab es noch Viel zu tun. Die Übernahme der Kosten für die erste Therapeutin, die wir für unsere Tochter gefunden hatten (bis heute eine wichtige Vertrauensperson für sie), hatte die Krankenkasse abgelehnt und uns stattdessen 3 Therapeuten ihres Vertrauens ge-nannt. Da man keine Angebote von Institutionen ablehnen sollte, die man später vielleicht noch einmal braucht, bekam unsere Tochter so also noch einen zweiten Therapeuten. Wir brachten sie jede Woche einmal zur Therapie nach Bollendorf und alle zwei Wochen zusätzlich noch zur Therapie nach Trier. Vormittags in der großen Pause (telefonisch) und unmittelbar nach dem Unterricht hatte ich als Mutter therapeutischen Notdienst und den nahm meine Tochter prak-tisch jeden Tag in Anspruch. Immer wieder kam es zu Situationen mit den Mitschülern (vorwie-gend den Jungs), die sie derart aus der Bahn warfen, dass sie sich nicht mehr auf den Unter-richt konzentrieren konnte. Um zumindest die zweite Hälfte des Vormittags zu retten, rief sie mich dann in der großen Pause an und ich tat mein Möglichstes, sie wieder soweit zu beruhi-gen, dass sie in der Lage war, dem weiteren Unterricht zu folgen. Nach dem Unterricht war die Situation ähnlich, denn sie brauchte ja ihre Konzentration für die Hausaufgaben, die sie an den Therapietagen allerdings erst abends erledigen konnte. Wie unsere Tochter unter diesen Um-ständen noch Noten im 3er- und 4er-Bereich zustande brachte, ist uns bis heute ein Rätsel.

  

Dann kam das Halbjahreszeugnis der 10. Klasse und mit ihm die ersten 5er, die unsere Toch-ter jemals auf einem Zeugnis hatte. Es waren gleich 4 und alle standen, wie sich bei genaue-rem Hinsehen herausstellte, in Zusammenhang mit den Auswirkungen des Asperger-Syn-droms. Wir waren davon völlig überrascht, denn wir waren davon ausgegangen, dass die an-deren Lehrer durch den Klassenlehrer entsprechend informiert waren. Das war zwar, wie sich herausstellte, der Fall, aber da unsere Tochter im allgemeinen Schulbetrieb nicht auffiel und nach außen hin wirkte, wie alle anderen Schüler auch, bewertete man sie auch so und vergaß, was man vom Klassenlehrer gehört hatte.

 

Schulen haben es des Öfteren mit Eltern zu tun, die mit den Noten ihrer Sprösslinge nicht zu-frieden sind und dafür eine ungerechte Benotung durch die Lehrer verantwortlich machen. So ist es durchaus nachvollziehbar, dass die Schule zunächst sehr zurückhaltend reagierte, als wir wegen des Zeugnisses vorstellig wurden. Ein Lehrer fragte sogar, warum wir denn erst jetzt kämen und ich erinnere mich noch an den verwunderten Blick, als ich ihm sagte, dass eine 4 (schlechtere Noten kannte ich von meiner Tochter nicht) für mich kein Anlass sei, gleich zum Lehrer zu laufen. Wir passten also nicht in das übliche Elternschema.

 

Überhaupt war die ganze Situation für die Schule völlig neu und man konnte damit nicht umge-hen. Sowohl die Schule als auch wir suchten Rat bei der übergeordneten Schulbehörde (ADD Trier). Hier erfuhren wir zum ersten Mal, dass Schülern mit Behinderung ein Nachteilsausgleich zusteht und dieser gewährt werden muss, sobald die Schule von der Behinderung Kenntnis hat. Erst unter den Bedingungen des Nachteilsausgleichs kann die tatsächliche Leistungsfä-higkeit eines Schülers festgestellt werden. Wie der Nachteilsausgleich aussehen muss, ist abhängig von der Art Behinderung. Also informierten wir die Schule, diesmal ganz offiziell, um-fänglich über das Asperger-Syndrom und seine Auswirkungen bei unserer Tochter. Das ge-schah aus dem Wunsch heraus, sie nach Kräften in ihrem Bemühen zu unterstützen, unserer Tochter gerecht zu werden.

  

Aber wir hatten dabei nicht das „Fachmann-Syndrom“ bedacht, unter dem die meisten Men-schen leiden und das einer konstruktiven Zusammenarbeit sehr hinderlich sein kann. Lehrer sind Fachleute für Pädagogik, die Schulbehörde ist Fachbehörde für die Umsetzung der Schulrichtlinien, in der Schulbehörde gibt es eine Fachstelle für Sonderpädagogik an Regel-schulen, Psychologen und Psychotherapeuten sind Fachleute für das Asperger-Syndrom und Eltern sind Fachleute für … alles, für das es sonst keine Fachleute gibt.

  

Fachleute verschiedener Fachgebiete können selten wirklich zusammen arbeiten, denn jeder wird bemüht sein, sich nicht von einem Fachfremden in sein eigenes Fachgebiet hineinreden zu lassen. Außerdem kennt sich nicht jeder, der durch seinen Beruf oder sein Amt als Fach-mann ausgewiesen ist, wirklich gut in allen Bereichen seines Faches aus (s.o.).

  

Aus dieser Erkenntnis heraus fasste ich den Entschluss, mich als Vermittler, also quasi als Dolmetscher zu betätigen, denn für meine Tochter ging es um eine ihr angemessene Schul-bildung und damit um ihren weiteren Lebensweg. So begann ich, mich in die Fachgebiete aller Beteiligten einzuarbeiten. Wissenschaftliches und systematisches Arbeiten hatte ich während meines philologischen Studiums gelernt und außerdem hatte ich Zeit, denn ich war und bin „nur“ Hausfrau mit Internetzugang.

  

Der Schule war mittlerweile klar geworden, dass die Tatsache, eine Schülerin mit Asperger-Syndrom zu haben, Konsequenzen nach sich zog. Nach den ersten Informationen zu AS fühlte man sich damit völlig überfordert und überlegte, ob es für die Schülerin nicht besser sei, um sie nicht zu überfordern, entweder die Schule nach der 10. Klasse zu verlassen oder auf eine Förderschule zu gehen!? (= Schülerin weg, Problem gelöst). Zunächst musste allerdings die 10. Klasse bewältigt werden. Es herrschte Einhelligkeit darüber, dass das Halbjahreszeugnis unter falschen Voraussetzungen zustande gekommen war. Es zu ändern machte keinen Sinn, aber die entsprechenden Noten sollten keine Auswirkungen auf das Jahresendzeugnis haben. Also musste man sich nun mit dem Nachteilsausgleich befassen. Von der übergeordneten Schulbehörde (ADD) erhielt man umfangreiches Informationsmaterial hierzu. Auch Lehrer sind nur Menschen und stehen daher Fremdem und Ungewohntem zunächst einmal ablehnend ge-genüber So ist es nicht weiter verwunderlich, dass die erste Reaktion war: „Das geht so nicht!“ Man könne nicht sein ganzes Unterrichtssystem umstellen und man trage eine pädagogische Verantwortung für die übrigen Schüler, wurde von den pädagogischen Fachleuten argumen-tiert.

  

Viele Eltern geben an dieser Stelle im Vertrauen auf die Kenntnisse der Fachleute auf und nehmen dankbar an, was die Schule zu tun bereit ist.

  

Nicht so wir. Unser Vertrauen in Fachleute war bereits erschüttert, wir waren auch nicht der Auffassung dankbar sein zu müssen und wir hatten die Kraft und die Ausdauer für unsere Tochter zu kämpfen.

  

Mit Menschen mit Behinderung menschenwürdig umzugehen, sollte selbstverständlich sein, ist es aber in unserer heutigen Leistungsgesellschaft, die dazu neigt den Wert eines Menschen an Normen (dem Normalen) zu messen, nicht. Das macht Gesetze nötig, die Menschen mit Behinderung vor den Mitmenschen schützen, für die das dort Niedergeschriebene eben nicht selbstverständlich ist. Ist man gezwungen, sein Recht einzufordern, weil es einem vorenthalten wird, steht man schnell als Jemand da, der mehr will, als die Anderen, die sich in ihr Schicksal ergeben. Bekommt man dieses „Mehr“, wird in der Regel erwartet, dass man dankbar ist.

  

Wir waren also undankbar und bestanden nicht nur auf einem „bisschen“ Nachteilsausgleich, sondern wollten diesen auch noch schriftlich niedergelegt haben, denn manches gerät gerne in Vergessenheit, wenn man es nicht aufschreibt. Schule und ADD machten sich also ans Werk und erstellten einen umfangreichen Katalog von Maßnahmen, zu denen die Lehrer verpflichtet wurden. Das Ergebnis wurde uns, nachdem es schon als verbindlich eingeführt worden war, vorgelegt. Abgesehen davon, die meisten Maßnahmen eher benachteiligend als ausgleichend waren (Fachleute für Sonderpädagogik an Regelschulen sind eben nur begrenzt auch Fach-leute für Asperger-Syndrom), konnten wir gut nachvollziehen, dass sich die Lehrer davon „ge-gängelt“ fühlten und nur noch „Dienst nach Vorschrift“ machten. Sie hielten sich exakt an die (falschen) Vorgaben. Es dauerte ein volles Jahr, bis nach mehreren Anläufen ein schriftlicher Nachteilsausgleich verfasst wurde, der für alle Seiten zufriedenstellend war und den Lehrern die Freiheit gab, eigene Ideen und Vorstellungen einzubringen. Aber ich greife vor, also zurück zum 10. Schuljahr.

  

Zwischenzeitlich näherte sich das Schuljahr dem Ende und es war abzusehen, dass unsere Tochter problemlos die Versetzung in die Oberstufe schaffen würde. Für uns war es selbst-verständlich, dass sie dann nach den Sommerferien weiter auf dem Gymnasium bleiben wür-de, denn sie wollte und will heute noch Ägyptologie studieren und das geht bekanntlich nur mit Abitur. Die Schule sah allerdings große Probleme, denn sie war der Auffassung, dass unsere Tochter den Anforderungen der Mainzer Studienstufe mit ihrem Kurssystem und den ständig wechselnden Räumen und Kursteilnehmern als Asperger-Autistin nicht gewachsen war. Wie-der widersprachen wir den Fachleuten. Nun vertrat die Schule die Auffassung, dass die Ober-stufe nur möglich sei, wenn unsere Tochter eine Schulbegleitung bekäme. Das kam uns sehr gelegen, denn wie notwendig und hilfreich eine (therapeutische) Unterstützung während des Unterrichts ist, war uns schon lange bewusst (Mutters telefonischer Notdienst). In dem Be-wusstsein, dass viele Lehrer sich durch eine fremde Person, die in ihrem Unterricht sitzt, be-obachtet und kontrolliert fühlen, hatten wir dies der Schule in der ohnehin schon von Verunsi-cherung geprägten derzeitigen Situation allerdings erst gar nicht vorgeschlagen. Da aber nun die Schule selbst den Wunsch äußerte, stellten wir noch vor den Sommerferien beim Jugend-amt den entsprechenden Antrag. Damit begann die große Reise nach Absurdistan (Details siehe dort).

  

Mittlerweile hatte das 11. Schuljahr (ohne Schulbegleitung) begonnen, der Nachteilsausgleich war immer noch in Bearbeitung und einige Lehrer machten Dienst nach (falscher) Vorschrift. Das sollte sich als entscheidend herausstellen, denn wer sich nur an Vorschriften hält, macht sich keine eigenen Gedanken. Wir hatten der Schule eine Fülle von Material (auch Fachlitera-tur) zum Asperger-Syndrom zur Verfügung gestellt und ich hatte die Lehrer auch auf einer Kurslehrerkonferenz umfassend informiert, aber dieser „Schuss ging nach hinten los“.

 

Asperger-Autisten sind wie Chamäleons, d.h. sie passen sich den Erwartungen an, die ihre Umgebung an sie stellt. Ist die Umgebung (in unserem Fall die Schule) darüber informiert, wel-che Auswirkungen das Asperger-Syndrom auf das Verhalten einer Person haben kann, wird sie dieses Verhalten erwarten. Je mehr Informationen umso mehr Erwartungen. Die Auswir-kungen von AS sind jedoch von Individuum zu Individuum sehr unterschiedlich und Fachliteratur versucht natürlich alle Erscheinungsformen zu beschreiben.

  

In unserem Fall bedeutete das, dass eine Schülerin, die vorher den Lehrern nicht aufgefallen war (kein Handlungsbedarf s.o.), plötzlich beobachtet wurde und jede ihrer Verhaltensweisen mit dem Bild, das man von AS gewonnen hatte, abgeglichen wurde. Das führte dazu, dass die unauffällige Schülerin von vorher auf einmal als von AS besonders schwer betroffen galt. Ein Teil der Lehrer begann, darauf Rücksicht zu nehmen und vorsichtig mit unserer Tochter umzu-gehen, was dazu führte, dass sie sich dem Bild, das man von ihr hatte, anpasste und immer aspergerischer wurde. Ein anderer Teil der Lehrer fühlte sich als Pädagoge dazu aufgerufen, einen Asperger zu einem Normalo zu erziehen, was von vornherein zum Scheitern verurteilt ist und bei unserer Tochter ein tiefes Gefühl des Versagens und der Unzulänglichkeit auslöste und ihrem ohnehin schon geringen Selbstvertrauen erheblich schadete. Insbesondere in einem ihrer Leistungskurse führte das dazu, dass sie sich überhaupt nichts mehr zutraute und nur noch Leistungen im 5er-Bereich bringen konnte. Hatte vorher keiner ihr sozial/kommunikatives Handicap wahrgenommen, kamen nun zu den schulischen Anforderungen auch noch Anforde-rungen in diesem Bereich auf sie zu. Die Belastung wurde für sie immer größer.

  

Mit Beginn des 2. Schulhalbjahres fand die große Reise Absurdistan ein vorläufiges Ende und unsere Tochter bekam eine Schulbegleiterin. Diese war sehr engagiert und arbeitete sich, da von ihrem Arbeitgeber, einer Jugendhilfeorganisation, nur dürftigst vorinformiert, selbst schnell und intensiv in die Materie ein, wobei wir sie nach Kräften unterstützten. Bald wurde aber klar, dass die Erwartungen, die die Schule mit einem Schulbegleiter verband, erheblich von dessen tatsächlichen Aufgaben abwichen. Man war offenbar davon ausgegangen, dass der Schulbe-gleiter dafür Sorge tragen würde, dass unsere Tochter am Unterricht so teilnehmen könne, dass der Schulbetrieb in seiner alten Form wieder aufgenommen werden könnte. Da war na-türlich das Erstaunen groß, als wir schon nach kurzer Zeit in der Schule vorstellig wurden und darauf aufmerksam machten, dass der Nachteilsausgleich nach wie vor gewährt werden müs-se. Ein zentraler Punkt des Nachteilsausgleichs war, dass unserer Tochter die Unterrichtsma-terialien in gleichem Umfang zur Verfügung stehen müssten, wie ihren Mitschülern, was zum Beispiel Kopien von Tafelanschrieben beinhaltete. Die Schulbegleiterin hatte mehrere Wo-chen für unsere Tochter mitgeschrieben und war zu ihren eigentlichen Aufgaben nicht mehr gekommen. Nach unserem Gespräch in der Schule bekam unsere Tochter dann wieder Ko-pien.

  

Der Aufbau einer sinnvollen Zusammenarbeit zwischen Schulbegleiterin und Schule, die Irri-tationen beim Erarbeiten des Nachteilsausgleichs, die Probleme in einem Leistungskurs (mit-tlerweile spitzte sich die Situation in einem zweiten Leistungskurs ähnlich zu) und die damit verbundene immer stärker werdende psychische Belastung für unsere Tochter führten letzt-endlich dazu, dass wir am Ende des 11. Schuljahres beschlossen, dass unsere Tochter die-ses Schuljahr, obwohl die Versetzung keineswegs gefährdet war, freiwillig wiederholt. Sie hat-te so die Gelegenheit, ihre Leistungskurse neu zu wählen und es wird niemanden wundern, dass sie das Fach, in dem sie sich nichts mehr zutraute, komplett abwählte.

  

Das „neue“ 11. Schuljahr begann für alle Beteiligten in gelöster und entspannter Atmosphäre. Wir hatten in der Zwischenzeit sehr viel über das Asperger-Syndrom dazugelernt und ich hatte mich zu einem kompetenten Dolmetscher entwickelt (man wächst an seinen Aufgaben). Die neuen Lehrer unserer Tochter nutzten den Freiraum, den der nunmehr auf das Notwendigste beschränkte, schriftliche Nachteilsausgleich ihnen bot und zeigten viel Eigeninitiative und sehr viel Einfühlungsvermögen im Umgang mit unserer Tochter. Wir, die Schulbegleiterin, die Leh-rer und die Schulleitung arbeiteten sehr konstruktiv Hand in Hand, was sich ausgesprochen günstig und entlastend auf unsere Tochter auswirkte.

  

Alles wäre prima gewesen, hätte es da nicht die Stammkursfahrt nach Rom gegeben, die ge-gen Ende der 11. Jahrgangsstufe stattfinden sollte. Flug, Unterkunft, Kosten, alles war schon bis ins Detail geplant, als wir von der begleitenden Lehrerin zu einem Gespräch gebeten wur-den. Dort wurde uns eine Vereinbarung zur Unterschrift vorgelegt, die besagte, dass unsere Tochter nur an der Fahrt teilnehmen könnte, wenn ich und ggf. die Schulbegleitung sie dabei begleiten und sowohl unsere Tochter als auch wir separat buchen würden. Begründet wurde diese Vorgehensweise damit, dass man sich außer Stande sah, die Verantwortung für unsere Tochter zu übernehmen und die Verantwortlichkeit in unseren Händen wissen wollte. Unsere Tochter war zu diesem Zeitpunkt bereits volljährig und stand weder unter Vormundschaft noch Betreuung, denn dafür gab es keine Veranlassung. Ich war gerne bereit die Kosten dafür zu tragen und meine Tochter auf der Fahrt zu begleiten, nicht, weil dies unbedingt nötig gewesen wäre, sondern weil ich schon immer mal nach Rom wollte und weil meine Teilnahme die Leh-rerin offenbar beruhigen konnte. Es war jedoch abzusehen, dass das Jugendamt die Schulbe-gleitung für eine private Parallelfahrt nicht bezahlen würde. Schon aus diesem Grund musste meine Tochter regulär im Kursverband an der Fahrt teilnehmen. Ich sah die Sorgen und Äng-ste der Lehrerin, wusste aber auch, dass dazu kein Anlass bestand. Genau dies versuchte ich zu erklären, jedoch wollte man das nicht hören, denn es stand bereits fest, dass, wenn wir mit einer Parallelfahrt nicht einverstanden wären, man nicht bereit wäre, unsere Tochter überhaupt auf dieser Fahrt, die eine verpflichtende schulische Veranstaltung war, mitzunehmen.

  

Wir ließen die Schule wissen, dass wir das nicht hinnehmen würden und so holte sich die Schule bei der ADD Rat. Von dort kam dann der Bescheid, dass man eine Schülerin mit Be-hinderung nicht wegen dieser Behinderung von einer verpflichtenden schulischen Veranstal-tung ausschließen könne. Man müsse vielmehr bei der Planung einer solchen Fahrt bereits berücksichtigen, dass auch die behinderte Schülerin daran teilnehmen kann.

  

Daraufhin sagte die Schule für den gesamten Kurs die Fahrt nach Rom (eine Abschlagszah-lung auf die Reisekosten war bereits geleistet) kurzerhand ab. Stattdessen sollten aus Rück-sicht auf die behinderte Mitschülerin Tagesfahrten innerhalb Deutschlands ohne Übernachtung stattfinden. Die Empörung bei den Mitschülern war groß, denn für sie war unsere Tochter die Ursache, dass sie sich mit Tagesfahrten zufriedengeben mussten, während die anderen Kurse tolle Fahrten machten. Sie wandten sich mit der Bitte an uns, doch auf die Teilnahme unserer Tochter zu verzichten, aber die Schule machte ihnen gleich deutlich, dass an der Entscheidung nichts mehr zu ändern sei. Die Kurselternsprecherin schaltete sich im Namen der Eltern ein, machte sich selbst ein Bild von unserer Tochter und ihrer Behinderung und startete, nachdem sie zu der Erkenntnis gekommen war, dass es keinen Anlass zu Bedenken gab, wenn unsere Tochter mit nach Rom fahren würde, einen weiteren Vorstoß bei der Schule. Gleichzeitig boten wir an, dass sich die Lehrerin doch bei den Therapeuten unserer Tochter kundig machen kön-ne, was aber nicht in Anspruch genommen wurde. Alles fruchtete nichts, die Romfahrt blieb ab-gesagt.

  

Schlimmer konnten wir es ja nicht mehr machen, also wandten wir uns mit einer offiziellen Be-schwerde an die ADD, um die Stammkursfahrt nach Rom für alle Schüler des Kurses doch noch zu retten. Und siehe da, auf einmal ging es doch. Die offizielle Begründung der Schule lautete jedoch, dass sich herausgestellt hät-te, dass man die Verantwortung für eine Schülerin unter den vorliegenden Gegebenheiten auf Dritte, in diesem Fall mich, übertragen könnte und da sowohl ich als auch die Schulbegleiterin sich bereiterklärt hätten, ebenfalls an der Fahrt teilzunehmen, somit der reibungslose Ablauf gewährleistet sei.

  

Unsere Tochter stand da als eine Person, die von zwei Aussichtspersonen begleitet werden musste, um überhaupt in der Lage zu sein, sich in Rom und nicht störend für die übrigen Schü-ler zu bewegen. Als wir uns dagegen bei der Schule zur Wehr setzten, machte man uns deut-lich, dass wir Ruhe geben sollten, denn sonst würde wir die Durchführung der Fahrt gefährden. Die Unterbringung in Rom war noch nicht gebucht! Daraufhin machten wir eine Eingabe beim Kultusministerium. Das nahm sich dann des Falls an, was letztendlich dazu führte, dass endlich gebucht wurde und die Fahrt 5 Monate später stattfinden konnte.

  

Der Ruf unserer Tochter war zwar ruiniert, unserer als Eltern hatte auch erheblichen Schaden genommen, aber wir waren in Rom gewesen. Die Fahrt war problemlos verlaufen (etwas an-deres hatten wir nicht erwartet) und für die Schule war die Angelegenheit damit erledigt.

 

Wie sich unsere Tochter bei der ganzen Affäre fühlte, kann jeder nachvollziehen, der versucht, sich vorzustellen, wie er sich selbst in dieser Situation gefühlt hätte. In ihrem emotionalen Emp-finden unterscheidet sich unsere Tochter nämlich nicht von den Normalos, auch wenn sie Asperger-Autistin ist.

  

Die Romfahrt fand am Ende des (erneuten) 11. Schuljahres statt. Hält man sich vor Augen, un-ter welchen emotionalen Belastungen dieses Schuljahr für unsere Tochter abgelaufen ist, kann man kaum fassen, dass ihr Zeugnis das beste war, das sie in ihrer Gymnasialzeit bisher hatte. Ihre schulischen Leistungen lagen im oberen Mittelfeld.

 

Rückblickend könnte man versucht sein, zu sagen, dass wir uns und unserer Tochter viel er-spart hätten, wenn wir auf die Teilnahme an der Stammkursfahrt gleich zu Anfang verzichtete hätten, jedoch sollte sich herausstellen, dass diese Schulfahrt nach Absurdistan auch ihr Gutes hatte. In der Schule hat sich nach der Intervention des Ministeriums ein Wandel vollzogen. Man verkehrt mit uns Eltern jetzt auf Augenhöhe und insbesondere ich werde jetzt als kompetente „Dolmetscherin“ anerkannt und zu Rate gezogen. Es hat sich eine für alle Beteiligten fruchtbare Zusammenarbeit entwickelt und es herrscht eine gelöste Atmosphäre, was auch unserer Toch-ter zugutekommt, die sich jetzt mit großen Schritten dem Abitur nähert.

  

Ab und an werden wir noch an unsere Reisen nach Absurdistan erinnert (kurze Tagestouren inklusive), aber wir haben trotz allem Erlebten den Optimismus nicht verloren und sind zuver-sichtlich, dass wir so schnell nicht wieder für länger dort hinreisen müssen.

 

Wir haben mittlerweile eine Selbsthilfegruppe für Menschen mit Asperger-Syndrom gegründet, um Betroffenen, deren Eltern/Verwandten und Interessierten eine Anlaufstelle als Alternative zu den Fachleuten zu bieten. Die Schicksale, die uns hier begegnen, führen uns immer wieder vor Augen, wie groß und abwechslungsreich Absurdistan eigentlich ist und wie viele Reiseveran-stalter es auf ihrem Programm haben.